Ein Berg ist kein Frosch

(Der dritte Teil der ‘Brains’ Trilogie ist soeben auf Downdays erschienen. Zum Abschluß durfte ich über den menschlichen Faktor bei Lawinenabgängen schreiben und mich dabei auf die Arbeit anerkannter Lawinenforscher berufen. Mehr dazu, Gastauftritte von Freeride Hund Oskar H. plus eigene Erfahrungen im Text.)

Lawinenunfälle mit Verletzten oder gar Toten sind selten ausschließlich auf Schneedeckenaufbau, Geländeform und Wetter zurückzuführen. Vielmehr spielt ein bestimmtes Element die oft wichtigste Rolle: Wenn Menschen in Gruppen unterwegs sind, werden Entscheidungen getroffen, die nicht immer die besten sind, und im schlimmsten Fall tragisch enden können. Ein Blick auf den menschlichen Faktor beim Freeriden.

Sieht aus wie ein Berg, ist aber keiner. Der Amazon Horned Frog. (Foto George Grall)

Es geht um den menschlichen Faktor bei Lawinenabgängen und gefährlichen Situationen am Berg. Welche rein subjektiven Entscheidungen passieren, die mit einer objektiven Betrachtung der Gesamtsituation nichts mehr zu tun haben und können also im schlimmsten Fall tragische Konsequenzen nach sich ziehen? Lawinenforscher Ian McCammon[1] hat diese heuristischen Fallen – auf Erfahrung basierende, selbstauferlegte Regeln, die Warnsignale oft verblassen lassen – beschrieben. Bei einigen hat sich wohl jeder schon mal ertappt, die meisten passieren bei fast jedem gemeinsamen Tag im Schnee. Offensichtlich sind sie alle. Rufen wir sie uns in Erinnerung und spicken sie mit eigenen Erlebnissen.

Die Vertrautheit des Geländes „Da kenn’ ich mich aus.“

Erfahrene, gut ausgebildete und kompetente Skifahrer und Bergführer sind auf ihrem Hausberg in der Lawine gestorben. Das ist kein Klischee sondern Tatsache. Oft werden untypische Gefahrenquellen, zum Beispiel eine unübliche Windrichtung, die normal sichere Hänge giftig macht, ignoriert, weil man diesen Hang schon zu jeder Tages und Nachtzeit blind gefahren ist und nicht einmal daran denkt, dass der abgehen könnte. (Mir passiert.) Dieser Faktor ist insofern doppelt gefährlich, als er vor allem dann zu tragen kommt, wenn man allein unterwegs ist und so erst recht auf vertrauten Pfaden bleibt.

Oskar versteht das Konzept “Entlastungsabstand” noch immer nicht. (Am Ski: Sebastian Huber)

Resignation durch Gruppendruck „Die anderen fahren ja auch.“

Ein Faktor, der mit fortschreitendem Alter und wachsender Erfahrung an Relevanz verliert. Resignation bedeutet, dass man sein vielleicht unsicheres Gefühl dem oft unabsichtlichen Druck der Gruppe “weiterzugehen”, “einzufahren” oder “das Cliff zu droppen” resignierend hingibt und gegen das Bauchgefühl handelt. Bekannt, gefährlich, wird aber mit den Jahren besser.

Entschlossenheit „So eine Chance krieg’ ich so schnell nicht wieder.“

Hier können einige ungünstige Umstände eine Rolle spielen. Freeriden kostet einiges an Geld und Aufwand, zudem hat man nicht immer an genau jenen seltenen freien Tagen jene epischen Verhältnisse, die laut Medien eigentlich jeden Tag herrschen. Passt dann einmal alles zusammen, ist man ungern gewillt, wegen dem bisschen Lawinengefahr kurz unterm Gipfel umzudrehen oder nicht in das gnadenlos schöne Colouir zu droppen. Also geht man oft wider besseres Wissen unnötiges Risiko ein. Geht alles gut, ist man ein harter Hund. Geht es nicht gut, ist man ein toter Hund. Es gibt zu diesem Punkt ein nicht unpassendes Sprichwort in unseren Kreisen, das so oder so betrachtet wahr ist: Ein Berg ist kein Frosch. Er wird dir nicht davonlaufen.

Vielleicht nicht weglaufen. Aber mit dem Lift davonfahren.

Die Experten „Der weiß schon was er tut.“

Hier spreche ich nicht von geführten Freeride Trips, wo man zu Recht dafür bezahlt, dass man einen Großteil der Verantwortung abgeben kann, um entspannt den besten Powder zu genießen. Dafür sind Freeride Center und gut ausgebildete Leute ja da. Bei unserem Beispiel geht es darum, dass sich in fast jeder Kleingruppe, die am Berg selbständig unterwegs ist, eine Führungspersönlichkeit herauskristallisiert. Das muss nicht absichtlich passieren, und es kann jeden treffen. Vielleicht ist es die lauteste Person, oder der Local, oder diejenige, die vor zwei Jahren eine Lawinenschulung beim Alpenverein gemacht hat und gerade eine neuen Lawinenairbag gekauft hat. In heiklen Situationen, die rasche Entscheidungen fordern, kann das alle Beteiligten in eine ungute Position bringen. Hier gilt es, vorab oder auch unterwegs offen zu diskutieren, wer – wenn überhaupt – welche Kompetenzen mitbringt und auch einsetzen kann. Ein wichtiger Punkt.

Bestätigung „Zwei Spuren im Schnee führ’n herab aus steiler Höh’ also ist alles sicher.“

Ein Klassiker. “Da sind Spuren, da kann ich fahren.” Zum Einen sollte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass frische Spuren kein Indikator für die Sicherheit des Hanges sind. Sicherer wird ein Hang erst, wenn er regelmäßig den ganzen Winter über befahren wird und so das Bilden von Gleitschichten verhindert wird. Zweitens und häufiger werden Spuren gerne von Geländeunkundigen als Wegweiser hergenommen. Und das kann leider dumm enden, denn niemand weiß, ob die ursprünglichen Spuren ins Nirvana oder ins Nirgendwo führen. Sehr oft passiert das an einem der berüchtigtsten Berge der Freireiterei, dem Krippenstein. Hier werden an guten Tagen verirrte Freerider im Stundentakt vom Helikopter aus Felswänden geholt, weil sie einer unbekannten Spur nachgefahren sind. (Eventuell steht dann der erste verwirrte Freerider sogar noch da, und man wartet zu zweit auf das teure Lufttaxi. Billiger und weniger blöd wird es dadurch aber auch nicht.)

Ungeduld aufgrund einer ausgewöhnlichen Situation „Erster!“

Und dann kommt es zu jener eher seltenen Situation, in der man sich mit seinem ganzen aufgestauten Powderfanatismus vor einem unverspurten Hang wiederfindet und zappelig so schnell wie möglich wegstarten möchte. Hinten geiern die Verfolger. Vor dir das weiße Paradies. Jetzt oder nie. In diesem Falle werden oft alle rationalen Entscheidungsstrategien ignoriert. Das ist nachvollziehbar und verständlich, ändert allerdings nichts daran, dass man gerade jetzt für wenigstens ein paar Minuten den Kopf einschalten muss, bevor man sich dem Adrenalinrausch hingibt. Das fällt schwer, ich weiß.

Es ist eingangs erwähnt worden. Viele, wenn nicht sogar alle Punkte dieser (durchaus erweiterbaren) Liste sind offensichtlich. Und doch ist es kein Fehler, hin und wieder drüber nachzudenken wenn man draußen unterwegs ist, und Unsicherheiten vor der Gruppe auszusprechen. Gute Freeskier und Skialpinisten entwickeln auch aus diesen psychologischen Aspekten das oft beschriebene Bauchgefühl, das ihnen hilft, zu guten alten Freeskiern und Skialpinisten zu werden.

[1] “Evidence of heuristic traps in recreational avalanche accidents” (Ian McCammon)

Über den Autor
Stephan Skrobar ist staatlich geprüfter Skilehrer und Skiführer, fährt im Fischer Freeski Team, ist Alpinausbildner für den steirischen Skilehrerverband, Team Manager des Pieps Freeride Teams und Leiter vom ‘Die Bergstation Freeride & Alpin Center’. Stephan betreibt auch eine Kommunikationsagentur und liebt gepflegten Punkrock. Beide (Stephan und Punkrock) sind nicht immer ernst zu nehmen.

2 thoughts on “Ein Berg ist kein Frosch”

  1. Besser kann man es nicht beschreiben. Ich hab vor 30 Jahren mit dem Skitourengehen angefangen und bestimmt hat jede der o.g. Situationen schon bei mir schon einmal zu einer objektiv gesehen falschen Entscheidung geführt. Ich hatte bisher immer soviel Sicherheitspolster und Glück, dass nichts passiert ist, das kann aber bei der nächsten Tour anders sein.

  2. Alles wahr – was zu erwarten war!
    Was überrascht ist ein Bild, das die Essenz des Textes und den Widerspruch des amphibischen Vergleichs zugleich einfängt. Als wollte uns der ewige Berg/Frosch (Götz v. B.) mahnend zurufen:”und ihm, sagt ihm’s er kann mich”

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